Warum es kein Hirngespinst ist die NATO-Mitgliedschaft der Türkei zu suspendieren
Statt sich auf die geostrategische Signifikanz der Türkei zu versteifen, sollte eine Bilanzierung ebendieser vorgenommen werden. Dabei sprechen nicht wenig Gründe gegen eine NATO-Mitgliedschaft.
Immer wieder steht das Argument im Raum: Die geostrategische Signifikanz der Türkei als NATO-Verbündeten. Zugegebenermaßen ist dieses offensichtliche und physisch-evidente Argument so einfach und augenscheinlich, dass es eine gewisse Überzeugungskraft benötigt, eine alternative Sichtweise zu eröffnen. Die türkische Staatsführung ist sich der Stärke dieser Argumentation in seiner Gänze bewusst, sie ist ein leitendes Mantra der türkischen Außenpolitik geworden. Dass sich die türkische Regierung als neues geostrategisches Gravizentrum gerieren kann, ist aber eben nicht nur der geografischen Lage der Türkei als Schlüssel zum Nahen Osten und Schwarzem Meer geschuldet, sondern auch einer aktiven Politik des Ansichreißens, die von Bündnissen wie der NATO als intergouvernementalen und der EU als supranationalen Akteur mitgetragen und sogar befördert werden. Die Bilanz dieser Politik könnte sich jedoch deutlich negativer auf die Interessen der Bündnisse auswirken, als man zunächst annehmen mag. Die Zerwürfnisse und Kontroversen rund um den Beitritt Finnlands und Schwedens in die NATO legen diese Schwachpunkte offen und bieten genau den richtigen Zeitpunkt, um den bisherigen Umgang mit der Türkei zu überdenken. Dabei ist vor allem ein Augenmerk auf die Politik der bewussten Grenzüberschreitungen der Türkei zu legen.
Jüngst zeichnen sich diese Grenzüberschreitungen insbesondere um die Verstrickungen rund um den Krieg in der Ukraine deutlich ab. Durch seine strategisch wichtige Position am Schwarzmeerzugang und die Lieferung der Bayraktar TB2 Drohne, hat es Ankara geschafft, sich in der Rolle des Mediators zwischen den Interessen des NATO-Bündnisses, der Ukraine und Russlands wiederzufinden. Insbesondere in den ersten Tagen des Krieges war die Lieferung der Bayraktar TB2 kein unerheblicher Beitrag zur ukrainischen Luftabwehr, wie ein Pilot der ukrainischen Luftwaffe der Fachzeitschrit “The Drive” verriet. Sie soll Inbesondere im Einsatz gegen den russischen Hilfskonvoy, der sich in den ersten Kriegstagen Richtung Kyiv bewegte, hilfreich gewesen sein. Nun sei die Drohne aber nahezu nutzlos, da Russland seine Luftabwehr gestärkt habe, gegen die die Bayraktar keine Effektivität vorweisen könne, fügte dieser hinzu.
Gewichtiger scheint somit die Abhängigkeit von der Türkei als kooperativer Mediator hinsichtlich ihrer Position als Tor zum Schwarzen Meer. Da die Ukraine auf dem Landweg kein Getreide mehr exportieren kann, ist die gesamte Weltgemeinschaft auf einen sicheren Transportkorridor über das Schwarzmeer angewiesen. Der Zugang ukrainischer Exportschiffe zum Schwarzen Meer wird teilweise von russischen Streifkräften mittels taktischer Seemanöver blockiert, teils sind die Häfen unter russischer Kontrolle, teils wird das Gewässer rund um die ukrainischen Häfen vermint zu haben. Das Problem im Schwarzen Meer ist jedoch vielschichtig und von weit mehr Faktoren abhängig, als einer einfachen Seeblockade, denn es geht im Kern um das Nutzungs- und Aufenthaltsrecht fremder Schiffe auf dem Gewässer, welche durch den Vertrag von Montreux geregelt sind. Kern der Vereinbarung: Es dürfen sich lediglich Anreinerstaaten auf dem Schwarzen Meer ohne Beschränkungen bewegen. Die Türkei ist einer davon und laut Vertrag berechtigt, die Bosporus-Meerenge und die Dardanellen zu kontrollieren. Deshalb wurde, iniitiert von den Vereinten Nationen, beschlossen, es solle ein Korridor mithilfe der Türkei zum Export des ukrainischen Getreides gebildet werden. Das Problem entstand eigentlich schon zu dem Zeitpunkt, in welchem sich die internationale Gemeinschaft auf die Türkei als validen Kooperationspartner verlassen hat, denn schon zu Anfang dieser Pläne berichteten Analysten, Ankara habe den Plan, das von Russland gestohlene Getreide für die Russen zu verkaufen. Es wurden Frachtschiffe aus den von Russland okkupierten Gebieten in der Ukrainie in Istanbul gesichtet:
Was zunächst schwer vorstellbar schien, ist indes zur faktischen Realität geworden. Vergangene Woche bestätigte sich, dass das Frachtschiff Zhibek Zholy von der Türkei festgesetzt wurde, nachdem die Ukraine den Vorwurf erhob, es handele sich bei der Fracht um gestohlenes ukrainisches Getreide. Die Türkei behauptete, sie würde die Fracht untersuchen. Was darauf folgte, war ein Gespräch mit dem russischen Außenminister Lawrow und anstelle der Konfiszierung der Fracht entsandte die Türkei das Frachtschiff zurück auf russisches Gewässer, wo die Fracht nun mutmaßlich auf ein anderes Schiff umgeladen wird, um sie weiterzuverkaufen.
Der Türkei geht es mit ihrem Appeasement russischer Interessen momentan vor allem um die Erlaubnis in den syrischen Luftraum eindringen zu können, was seinerseits von einer russischen Erlaubnis abhängig wäre. Im April hat die türkische Staatsführung ihre Operation Claw-Lock im Nordirak begonnen, mit dem Ziel durch eine Einkesselungstaktik die kurdischen Sicherheitskräfte in Rojava zu bombardieren und das Gebiet mit eigenen Bodentruppen zu okkupieren. Die Türkei hat somit in der Sache augenscheinlich die Rolle als Mediator eingenommen, vermittelt jedoch nicht zwischen den Konfliktparteien, sondern fördert aktiv die Interessen des russischen Aggressors, um ihre eigene Militäroffensive voranzutreiben. Fatal war die Annahme, dadurch könnte die globale Getreidekrise gelöst werden, denn dies wäre effektiv lediglich dann der Fall, wenn die NATO dazu bereit wäre, eine direkte Konfrontation mit Russland zu riskieren, indem sie selbst die ukrainischen Frachtschiffe durch das Schwarze Meer eskortieren lässt. Man hätte vor allem dabei auch auf die Diversifikation der Optionen setzen müssen: Über die Donau. Zwar müssten dafür kleinere Schiffe zum Einsatz kommen, aber es wäre eine der vielen möglichen Alternativen. Auch die Einbindung weiterer Anreinerstaaten, wie Serbien oder Bulgarien in diese Mission wäre an dieser Stelle unerlässlich gewesen. Das Problem des verminten Zugangs zum Schwarzen Meer ist übrigens in jedem Fall zu lösen.
Immer wieder ist in Artikeln auch zu lesen, die Türkei habe sich bisher als verlässlicher Kooperationspartner in NATO-Missionen gezeigt. Beispiele für NATO-Missionen mit türkischer Beteiligung sind der Kosovo, Afghanistan und die Ägäis. Die Resolute Support Mission in Afghanistan - und somit auch seine türkische Beteiligung- hat sich 2021 mit der Übernahme der Taliban selbst erledigt.
Blickt man wiederum in andere NATO-Missionen und die Beteiligung der Türkei, werfen sich hinsichtlich der Kooperationsfähigkeit und Verlässlichkeit einige Fragen auf. Im Kosovo ist die Türkei im Rahmen der NATO-geführten Kosovo Force (KFOR) mit einer Truppenstärke von 309 SoldatInnen (Stand: Januar 2022) aktiv. Der Einsatz dient dazu ein sicheres Umfeld im Kosovo und die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit erfolgt auch außerhalb der NATO-Mitglieder, im Rahmen des Militärbündnisses “Partnerschaft für den Frieden”, das wiederum ein Rahmendokument darstellt, in dem sich Staaten, die nicht NATO-Mitglieder sind, zu Kooperationen mit der NATO bereit erklären. Den Umfang bestimmt jeder Staat selbst. Unter den Unterzeichnerstaaten ist beispielsweise Österreich- da neutral- und infolgedessen an der KFOR mit einer Truppenstärke von 240 SoldatInnen beteiligt (Stand: Januar 2022).
Als Österreich im zweiten Halbjahr 2018 den EU-Ratsvorsitz innehatte, verlas der damalige Kanzler Sebastian Kurz ein Positionspapier, in welchem er sich der Frage der Türkei als EU-Beitrittskandidaten zuwandte. Er bezweifelte darin die Eignung der Türkei als Beitrittkandidaten und kritisierte, die Türkei bewege sich seit Jahren weg von der EU, insbesondere der gescheiterte Putschversuch habe dramatische Auswirkungen auf Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gehabt. Kurz prangerte "die inakzeptablen Provokationen im Zusammenhang mit Wahlkampfauftritten in EU-Mitgliedstaaten" im Vorfeld des türkischen Verfassungsreferendums an und schlug indes vor, den Beitritt der Türkei zur EU ad acta zu legen und an deren Stelle mit der Türkei einen europäisch-türkischen Nachbarschaftsvertrag auf Basis der modernisierten Zollunion abzuschließen. Die Türkei reagierte mit einer Blockadeankündigung für alle NATO-Missionen mit österreichischer Beteiligung. Als Reaktion auf diese Ankündigung wandten sich mehrere NATO-Länder mit einem Schreiben an den Generalsekretär und warnten vor ernsthaften Konsequenzen der Blockade durch Ankara. Es hieß in einem Brief der finnischen NATO-Botschafterin: "Langfristig kann eine Erosion unserer Interoperabilität unsere Fähigkeiten behindern, an anspruchsvollen NATO-Übungen teilzunehmen und NATO-geführte Operationen zu unterstützen". Der Einsatz im Kosovo ist allerdings für die NATO gerade durch die intensiven Einmischungsversuche aus Russland von elementarer Bedeutung. Auch für die EU und den künftigen Beitritt der Länder im Westbalkan ist ein befriedeter Kosovo unerlässlich. Innenpolitisch kam es jedoch in der türkischen Bevölkerung sehr gut an, dass ihr Präsident dem österreichischen Kanzler vermeintlich die Stirn bot, das Verfassungsreferendum hatte einen Ausgang zu seinen Gunsten und er wurde mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet.
Doch das ist nicht die erste und einzige Blockadehaltung der Türkei zu strategisch wichtigen NATO-Missionen. 2007 blockierte die Türkei bereits Kooperationen der EU und NATO. In Afghanistan sollte eine europäische Polizeimission zum Aufbau der dortigen Polizeikräfte initiiert werden. Zur erfolgreichen Durchführung war die EU beim Lufttransport und der Gewährleistung der Sicherheit auf die Unterstützung der NATO geführten ISAF-Stabilisierungskräfte angewiesen. Für eine Kooperation bedurfte es der Zustimmung des Allianzpartners Türkei, doch diese blockierte Ankara. Man wollte nur im Rahmen der “Berlin-Plus-Vereinbarungen” verhandeln. Die Türkei legt diese Vereinbarung über die strategische Zusammenarbeit der NATO und der EU “im engeren Sinn aus”, das bedeutet: Jede Interaktion zwischen beiden Organisationen ist eine strategische Zusammenarbeit und somit dürfen dieser Ansicht nach EU-Länder, die nicht NATO-Mitglieder sind, nicht an den Verhandlungen teilnehmen. Das sind namentlich Zypern und Malta. Die Türkei beharrt auf dieser Auslegung, weil sie die Zusammenarbeit mit der Republik Zypern, die sie nicht diplomatisch anerkennt, ablehnt. Diese Blockadehaltung hielt Jahre an und vereitelte, dass die beiden EU-Mitgliedsstaaten regelmäßig an Treffen mit der NATO teilhaben konnten. Auch diese Blockadehaltung war begleitet von Wahlkampfinteressen und hatte ebenfalls Konsequenzen auf den Kosovo-Einsatz, denn zuvor hatte Ankara angekündigt, sich bei zivilen EU-Missionen dort ähnlich verhalten zu wollen. Zusammengefasst kann man also feststellen, dass Ankara immer wieder seine innenpolitischen Ziele derart priorisiert hat, dass Einsätze von höchster Bedeutung wiederholt in ihrer Interoperabilität bedroht waren. Dies ging so weit, dass die EU ihre eigenen Mitgliedsstaaten bei Verhandlungen außen vor lassen musste. Nicht nur hat Ankara die Stabilität im Kosovo mit seiner Kooperationsverweigerung gefährdet, aktiv hat es sogar eine Regierungskrise dort hervorgerufen, da sie den dortigen Innenminister und den Geheimdienst dazu anleiteten, sechs Beschäftigte einer dort ansässigen Gülen-Schule an die Türkei auszuliefern. Der Kosovo und die Türkei stehen aus Sicht Ankaras in einem Vasallenverhälnis, mit dem verbindendem Element des Glaubens. Ein großer Zweig der kosovarischen Wirtschaft ist mit türkischen Unternehmen verstrickt. Als der kosovarische Premierminister seinen Innenminister und Geheimdienstleiter aus dem Amt entließ und auch die dortige Opposition die Auslieferung kritisierte, hagelte es aus Ankara wüste Vorwürfe.
Auch der NATO-Einsatz in der Ägäis war von den Blockaden betroffen. Dort ist die Türkei Teil einer NATO-Unterstützungsmission der Grenzschutzagentur Frontex. Offiziell geht es dabei um Weitergabe von Informationen über Schleuseraktivitäten des jeweiligen Seegebiets durch die Anreinerstaaten mittels Präsenz und Erstellung eines Lagebildes. Auch Griechenland ist daran beteiligt. Immer wieder provoziert Ankara aber durch Nadelstichtaktik dabei den griechischen Allianzpartner, beispielweise durch das Erheben eines Anspruchs auf griechische Inseln im Mittelmeer. Populistische Forderungen, die bei der eigenen Bevölkerung aufgrund eines neokolonialen Selbstverständnisses positiven Anklang finden und insbesondere dem eigenen Wahlkampf der Regierungspartei nützlich sind. Als Teil eines Militärbündnisses, das in seinem Selbstverständnis die gegenseitige Souveränität achtet und sich gegen territoriale Aggressionen wendet, die auf dem Gedanken des Rechts der Einflusssphäre berufen, konterkariert ein solches Verhalten den Kern der Bündnispartnerschaft. Erst kürzlich präsentierte der Parteivorsitzende der ultranationalistischen MHP Devlet Bahçeli folgende Karte, auf der die jeweils beanspruchten Inseln als türkisches Territorialgebiet markiert sind:
Doch nicht nur im Rahmen von Auslandseinsätzen und territorialen Streitigkeiten konterkariert die Türkei regelmäßig die Funktionalität der NATO. Als im Jahr 2015 türkische Soldaten und ranghohe Militärs einen vermeintlichen Putschversuch initiierten, kappte die türkische Regierung kurzerhand die Stromversorgung und Kommunkation zum NATO-Stützpunkt im türkischen Incirlik für 24 Stunden. Währenddessen wurden ein Kommandant und mehrere Offiziere des Stützpunkts mit dem Vorwurf, es handele sich bei diesen um Putschisten, festgenommen. Es fand sogar ein Schusswechsel am Eingangstor der der Air Base statt und in den folgenden Tagen blieb der Stützpunkt vollkommen abgeriegelt. In Incirlik lagern taktische Atomwaffen des Bombentypus B61. Zwar gibt es selbstverständlich ein Notstromaggregat, dennoch stellt es ein gravierendes Risiko dar, die Stromversorgung eigenmächtig zu kappen, abgesehen von diesem erheblichen Sicherheitsrisiko erscheint es doch wie ein außerordentlicher Eingriff in die Integrität der U.S. Airforce, die weder Kommunkation zu den dort stationierten SoldatInnen unterhalten, noch in den Folgetagen ihre SoldatInnen abziehen konnte- sie waren de facto einige Tage in der Air Base eingesperrt. Dass es bei dieser Aktion nicht nur um die vermeintlichen Putschisten ging, sondern es sich vielmehr um Drohgebärden und Machtdemonstrationen Ankaras handelte, um die NATO zur Unterstützung seiner militärischen Aktivitäten an der syrischen Grenze zu bewegen, wurde schnell klar als der Sprecher des türkischen Staatspräsidenten Ibrahim Kalin im Nachrichtensender „Kanal 24“ kritisierte, die Unterstützung der Vereinigten Staaten für die türkischen Truppen in Nordost Syrien (sic) sei ineffizient und unzureichend und betonte, die Türkei habe jederzeit das Recht den Luftwaffenstützpunkt Incirlik zu schließen. Bis heute setzen sich diese Drohgebärden fort, dabei tat sich im unmittelbaren Anschluss an die Grenzüberschreitungen der türkischen Regierung zumindest in Deutschland die Diskussion um eine Verlegung der Bundeswehr aus dem Stützpunkt nach Jordanien auf, welche offenbar weder genug öffentliches Interesse hervorrief, noch von genügend Interesse der Bundesregierung war. Dabei ist die Türkei mindestens so abhängig von der NATO-Präsenz, wie die NATO von der türkischen Geografie. In einem Op-Ed bringt Michael Rubin, ein ehemaliger Mitarbeiter des Pentagon, einige Punkte an, welche dies unterstreichen, wie beispielsweise den Rückhalt der NATO, der für die Offensive in Rojava und nun auch in Şingal benötigt wird, denn wäre die Türkei ihrerseits kein NATO-Mitglied, würden russische Konzessionen und Duldungen in der Sache ihr jähes Ende finden. Auch die Provokationen gegen Griechenland hätten schwerwiegende Konsequenzen, wären sie nicht mehr als bloße Scharmützel unter Koalitionspartnern einzuordnen, sondern als handfeste Drohungen gegen die territoriale Integrität eines NATO-Mitgliedsstaates.
Auch war die Entscheidung der NATO ihre Kommandozentrale für den NATO-Raketenschild vollständig nach Ramstein zu verlegen und somit die Kommandozentrale in Izmir (ehemals: LANDSOUTHEAST) zu schließen, Auslöser für Unmut in der Türkei. Schon zu Beginn des Prozesses beklagten Medien die Reduzierung der dortigen Dienstposten für türkische Offiziere. Zwar waren laut medienangaben lediglich 670 der dort angestellten Mitarbeiter TürkInnen, dennoch ist nicht zu leugnen, dass ein etwaiger Standort immens von der Wirtschaftskraft einer solchen Kommandozentrale mit einer Stärke von dreizehntausend Mitarbeitern profitiert.
Zusammengenommen kann also erheblich an dem Argument des verlässlichen Kooperationspartners gezweifelt werden. Vielmehr ist für die Türkei die NATO ein verlässlicher Koopartionspartner für ihre populistischen Scharmützel mit Griechenland und zur Etablierung ihres neo-osmanischen Selbstbildes zu werten.
Doch nicht nur die Provokationen mit Anreinerstaaten und andauernden Blockadehaltungen schaden der NATO, auch muss ein Blick in die wiederholten Grenzüberschreitungen der Türkei angesichts der immer wiederkehrenden Verhandlungen mit Russland vorgenommen werden:
Die Türkei erwarb 2019 vier Einheiten des russischen mobilen Luftabwehrsystems S-400. Vorangegangen waren Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten über den Kauf des amerikanischen Patriot-Systems, welche erfolglos blieben. Die Türkei begründete damals ihren Ankauf mit dem vermeintlichen Unwillen der Amerikaner ihr Patriot-System zu liefern und als unbedingte, zeitnah notwendige Antwort auf Sicherheitsbedrohungen aus dem angrenzenden syrischen Bürgerkrieg und der damit einhergehenden Aktivitäten der YPG/YPJ. Es dürften dabei jedoch auch andere Faktoren eine erhebliche Rolle gespielt haben, denn das russische Abwehrsystem war zum einen erheblich günstiger als das amerikanische Modell und zum anderen wusste Ankara bereits zu diesem Zeitpunkt, dass das Inaussichtstellen des wiederholten künftigen Erwerbs russischer Systeme eine gute Verhandlungsmasse bietet, um die NATO zu Konzessionen jeder Art zu zwingen. Trump, der zu diesem Zeitpunkt noch Präsident der Vereinigten Staaten war, war seinem türkischen Amtskollegen wohlgesonnen, was er wiederholt auf Twitter kundtat, sodass man sich in Ankara sehr wohl dessen bewusst war, dass diese Grenzüberschreitung nicht unerträglich schwere Sanktionen nach sich ziehen würde. Die Amerikaner setzten daraufhin erst Wochen später die Zusammenarbeit mit der Türkei in ihrem F-35 Programm aus und Ende 2020 gab auf Grundlage des National Defence Authorisation Act 2021 Sanktionen gegen die Türkei. Die F-35 ist ein multifunktionales Kampfflugzeug, an dessen Bau die Türkei beteiligt war. Infolgedessen sollten die Türken auch keine weiteren Flugzeuge geliefert bekommen. Seither tobt ein regelrechtes Strategiespiel der Waffenlieferungsoptionen. Die Türken signalisierten der neuen US-Administration unter Biden, es bestünde noch ein Interesse am Flugzeugtypus F-16. Seitdem fährt Ankara zweigleisig: Verhandelt wird sowohl mit der russischen, als auch der amerikanischen Seite. Von der ursprünglichen Vorstellung der Truman-Doktrin ist ergo nicht viel übrig geblieben, die einen Beitritt der Türkei und Griechenlands zur NATO zur Limitierung russischer Ineinflussnahme auf die beiden Länder zum Ziel hatte. Vielmehr nutzt die Türkei die Angst insbesondere der westlichen NATO-Staaten, sie könne sich der russischen Einflussphäre zuwenden, bewusst gegen diese aus, um eine möglich starke Ausgangsposition in Verhandlungen zu haben. Insbesondere angesichts der Inkompatibilität der russischen Systeme mit dem bereits Vorhandenen NATO-Arsenal wird diese einfache Denkstruktur nur allzudeutlich. Dass ein Militärbündnis nun mal das nationale Interesse eines Staates nicht verdrängt, liegt zwar auf der Hand, aber an dieser Stelle kann wohl festgestellt werden, dass die Türkei immer wieder bewusste Grenzüberschreitungen betreibt, die nachhaltig dem Ansehen der NATO und der Integrität des Bündnisses schaden. Inbesondere ist auch hier festzustellen, dass das Schaffen der vollendeten Tatsachen und gerade das Erschaffen der Konfliktsituation bewusst herbeigeführt werden und nicht eben nur ein Nebenprodukt einer ausweglosen Sicherlage sind.
Andernorts wäre der Einsatz der F-16 jedoch von höherer Relevanz für die NATO, denn der eingangs erwähnte Soldat der ukrainischen Luftwaffe mit dem Namen “Moonfish” erklärte in seinem Interview mit “The Drive” im März diesen Jahres, die Ukraine sei sehr auf die Ausbildung ihrer SoldatInnen an amerikanischen Kampfjets und die Lieferung von entweder F-16 oder F-15 Flugzeugen angewiesen. Die Luftabwehr habe Lücken und insbesondere müsse nun festgelegt werden, welche Kampfjets welchen Typus geliefert werden, um etwaige Ausbildungsmissionen zu beginnen. Ähnliches postete die Ukrainian Air Force auf Twitter:
Das Trainingsprogramm wurde vier Monate später, am 16.07.2022, bestätigt. Damit sind bis dato die dringend nötigen Kampfjets nicht geliefert worden.
Eine andere Frage, die es wer wäre zu diskutieren, wären die rechtlichen Rahmenbedingungen einer Ausscheidung der Türkei aus der NATO. Der Nordatlantikvertrag sieht eine Beendigung der Mitgliedschaft in seinem Vertragswerk nicht vor, sodass auf kodifiziertes völkerrechtliches Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden müsste- die Wiener Vertragsrechtskodifikation. Die Beendigung und Suspendierung von Verträgen ist in der WVK in Abschnitt 3 geregelt. Die Regelung der Beendigung wird danach zunächst den Vertragsbedingungen überlassen, diese sind hier nicht einschlägig, da nicht vorhanden, sodass auf Art. 56 zurückgegriffen werden müsste. Dieser bestimmt:
(Abs. 1)
„Ein Vertrag, der keine Bestimmung über seine Beendigung enthält und eine Kündigung oder einen Rücktritt nicht vorsieht, unterliegt weder der Kündigung noch dem Rücktritt, sofern nicht
a) feststeht, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit einer Kündigung oder eines Rücktritts zuzulassen beabsichtigten, oder
b) ein Kündigungs- oder Rücktrittsrecht sich nicht aus der Natur des Vertrags herleiten lässt."
Diese Ausnahmetatbestände hinsichtlich der Beendigung des Vertrags durch eine Mehrheit von Staaten gegenüber einem Mitgliedstaat sind nicht erkennbar, sodass eine einfache Beendigung des Vertrags gegenüber einem Mitgliedsstaat nach diesem Absatz wohl ausscheidet.
Jedoch sieht Art. 60 Abs. 2 WVK eine Suspendierung oder Beendigung des Vertrags durch mehrere Vertragsparteien gegenüber einer Vertragspartei entsprechend den dort aufgestellten Grundsätzen einer erheblichen Vertragsverletzung vor:
„Eine erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei
a) berechtigt die anderen Vertragsparteien, einvernehmlich den Vertrag ganz oder teilweise zu suspendieren oder ihn zu beenden
i) entweder im Verhältnis zwischen ihnen und dem vertragsbrüchigen Staat […]".
Nach diesen Grundsätzen wäre eine einvernehmliche Entscheidung aller Vertragsstaaten für die Suspendierung oder Beendigung des Vertrags gegenüber einem Vertragsstaat erforderlich, die auf eine erhebliche Vertragsverletzung des betroffenen Staats zurückgeht. Dass erhebliche Vertragsverletzungen durch wiederholte Blockadehaltungen, territorialen Ansprüchen eines anderen Mitgliedsstaates gegenüber und Verhandlungen mit Russland und daraus entsprechend resultierenden Waffenlieferungen eine erhebliche Vertragsverletzung darstellen könnten, sollte dringend in Betracht gezogen werden. Mit seinen wiederholten Drohgebärden, der immer wieder zu Tage tretenden Gefährdung strategisch wichtiger NATO-Einsätze und als offener Verhandlungspartner Russlands konterkariert die Türkei den Kernauftrag des Bündnisses, sodass sie der NATO auf Dauer eher schadet, als ihrem Auftrag förderlich zu sein. Die Möglichkeit einer Suspension völlig unbeachtet zu lassen, wird hinsichtlich der Appeasementpolitik Ankaras zu Bündnisgegnern des autoritären Blocks, namentlich Russland, China und Iran, zunehmend schwierig und sollte Ankara als mögliche Konsequenz seiner fortlaufenden Grenzüberschreitungen zumindest in Aussicht gestellt werden.
Sehr informativ und wenn das alles so stimmt, wovon ich ausgehe, auch mehr als nur eine Überlegung wert.